Interview

Das Rosa Heft: kultureller Aktivismus entsteht auch auf Festivals

Lucrezia Perrig und Noemi Grütter interviewt von Ana Isabel Mazon


Lucrezia Perrig
Doktorandin Gender studies
Université de Lausanne


Noemi Grütter
Feministische Aktivistin, DJ &
Menschenrechtsexpertin

2020 verfassten Lucrezia Perrig, Sidonie Atgé-Delbays und Noemi Grütter gemeinsam das Rosa Heft. Dieses Handbuch bündelt die Erkenntnisse ihrer Forschungsarbeit, die 2018 im Rahmen des Genfer Festivals Les Créatives begonnen hat, und präsentiert diese eher als Zwischenstand, denn als Darstellung von endgültigen Ergebnissen. Es sammelt Erfahrungsberichte, rechtliche Ressourcen und Werkzeuge, die von und für Westschweizer Künstler*innen und Institutionen entwickelt wurden, um die Genderungleichheit auf praktische und alltägliche Weise anzugehen.

Am 17. September 2023 leiteten Lucrezia Perrig und Noemi Grütter gemeinsam einen Workshop bei dem von m2act und Burning Issues gemeinsam organisierten Netzwerktreffen zu den Themen genderspezifische Lohnungleichheit und schwierige Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben – zwei strukturelle Probleme der heutigen Arbeitswelt, von denen auch der Kultursektor betroffen ist. In diesem Interview erzählen sie uns von der Entstehung des Rosa Heftes und erinnern uns daran, dass Aktivismus auch – und vor allem – an kollektiven Treffen entsteht.

10. November 2023

Wie ist die Idee für das Rosa Heft entstanden und wie hat sich die Initiative seither entwickelt?

Unsere Initiative wurde nach einer Podiumsdiskussion gestartet, die 2018 vom Festival Les Créatives in Genf mit dem Titel «Wo sind die Frauen?» organisiert wurde. Es ging darum, sich ernsthaft mit der Frage der Genderungleichheit in den verschiedenen künstlerischen Bereichen auseinanderzusetzen und eine übergreifende Diskussion zu führen.

Dieses Treffen erwies sich als unverzichtbarer Diskussionsraum für viele im Kulturbereich tätige Frauen.

2019 beauftragte das Festival eine von uns mit der Organisation einer weiteren Podiumsdiskussion. Diese fand nur wenige Monate nach dem historischen schweizweiten feministischen Streik im Juni desselben Jahres statt und löste ein noch grösseres Echo aus.

Rund um diese zweite Podiumsdiskussion wurden Workshops zu vier zentralen Themen organisiert: sexuelle Belästigung, Gleichheit und Vielfalt in der Programmgestaltung und in den Teams, Lohngleichheit sowie Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben. In jedem dieser Workshops beantworteten Jurist*innen Fragen aus konkreten Fällen und schlugen rechtliche Handlungsoptionen vor.

Das Rosa Heft ist aus dem Wunsch heraus entstanden, das in diesen Workshops Besprochene in einem Leitfaden festzuhalten. Anschliessend haben wir einen Fragebogen an alle Westschweizer Kulturinstitutionen geschickt, mit dem wir herausfinden wollten, wie und in welchem Ausmass sie versuchen, die verschiedenen Ungleichheiten auszugleichen. Seither werden wir regelmässig eingeladen, das Rosa Heft und die Initiative sowohl im akademischen Umfeld als auch auf Kunstfestivals zu präsentieren.

Welche Auswirkungen auf den Kultursektor hatten das kollektive Befragen und das Sammeln von Erfahrungen, Forderungen und Vorschlägen aus der Praxis?

Bereits seit der ersten Podiumsdiskussion 2018 verlangt die Stadt Genf von Projekten, die gefördert werden wollen, dass sie Gleichstellung anstreben. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber immerhin.

Infolge des ersten Workshops zum Thema Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben im Jahr 2019 hat der Direktor des zeitgenössischen Musikensembles Contrechamps in Genf einen Betrag von 10 000 Franken aus dem Jahresbudget des Vereins freigegeben, um Massnahmen zu finanzieren, die den Angestellten helfen, ihr Familienleben mit ihrem Beruf zu vereinbaren. Er hat uns anvertraut, dass allerdings nur ein kleiner Teil der bereitgestellten Summe ausgegeben wurde.

Wir sind überzeugt, dass nicht nur die Entscheidungsträger*innen, sondern auch die Angestellten sensibilisiert werden müssen, damit sie sich berechtigt fühlen und in der Lage sind, die ihnen zur Verfügung stehenden Massnahmen und Ressourcen in Anspruch zu nehmen, ohne das Gefühl zu haben, dass das schlecht ankommt.

«Sowohl die Führungskräfte als auch die Angestellten müssen sensibilisiert werden, damit sie sich berechtigt fühlen, die ihnen zur Verfügung stehenden Massnahmen zu nutzen.»

Das Rosa Heft ist also ein Instrument das aus Podiumsdiskussionen an einem Festival entstanden ist. Diese Diskussionen haben einen Bedarf identifiziert, eine Dynamik geschaffen und sogar konkrete Auswirkungen erzielt. Das ist sehr ermutigend! Ihr wart auch am Netzwerktreffen M2ACT x BURNING ISSUES dabei, das am 15., 16. und 17. September 2023 in Bern zum ersten Mal rund 400 Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien zusammengebracht hat.

Wie würdet ihr heute eure Rolle bei solchen punktuellen Veranstaltungen, ob Festivals oder Netzwerktreffen, definieren?

Wir positionieren uns bei solchen Veranstaltungen als Referentinnen. Wir haben die in diesem Heft festgehaltenen Stimmen gesammelt und wenden uns an Fachleute des Kulturbereichs, die vor neuen Formen der Diskriminierung stehen, mit denen wir früher nicht unbedingt konfrontiert waren und die wir uns vielleicht nicht einmal hätten vorstellen können.

Wir beginnen unsere Workshops meistens mit Zahlen zur genderspezifischen Ungleichheit im Kultursektor, um das berechtigte Gefühl der Ungerechtigkeit bei den Teilnehmenden zu wecken und ihnen das Ausmass dieser Ungerechtigkeit bewusst zu machen.

Danach machen wir eine qualitativere Bestandsaufnahme, bei der die Teilnehmenden gefragt werden, welche Massnahmen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ergreifen, um gegen diese Ungleichheiten anzugehen. Wir gehen davon aus, dass alle auf ihre eigene Weise handeln, und versuchen, gemeinsam eine Plattform zu schaffen, die diese Massnahmen zusammenführt.

«Wir versuchen, gemeinsam eine Plattform zu schaffen, die Massnahmen gegen Ungleichheit zusammenführt.»

Was kann getan werden, damit solche Netzwerktreffen noch mehr bewirken können?

Solche Treffen sind meistens von einer unglaublichen Kreativität geprägt und vom Willen der Teilnehmenden, entschlossen zu handeln. Das Einzige, was fehlt, ist eine stärkere Einbindung der Politiker*innen, ihr Wille, sich anzuhören, was die kollektive Intelligenz zu sagen hat, und die Gelegenheit zu nutzen, die ihnen diese Veranstaltungen bieten, um die Vorschläge zu sammeln, die von den Akteur*innen aus der Praxis formuliert und von den Moderierenden der Workshops zusammengefasst wurden. Wir sollten versuchen, professionelle politische Lobbyist*innen so gut wir können zu mobilisieren.

Ausserdem sollten wir bei den neuen Generationen von Kunstschaffenden und im Kulturbereich tätigen Personen ansetzen, etwa durch Aufklärungsarbeit in den Kunstschulen und verschiedenen Berufszweigen.

«Das Einzige, was fehlt, ist eine stärkere Einbindung der Politik.»

Immer mehr Institutionen verabschieden Chartas mit bewährten Praktiken, was eine gute Sache zu sein scheint. Wie kann sichergestellt werden, dass sie es allen Berufstätigen ermöglichen, sich diese Instrumente anzueignen und sie in ihren Arbeitsalltag zu integrieren?

Wir ermutigen natürlich alle Institutionen, ihre eigenen Chartas zu verfassen: eine Charta für Inklusivität, Vielfalt, Antirassismus, Feminismus, Nachhaltigkeit etc. Wir ermutigen sie aber auch, diese schriftlichen, teils starren Dokumente, nicht zu glorifizieren, sondern sie lebendig zu machen und sie an ihre Realitäten und das sich wandelnde Umfeld anzupassen. Diese Chartas bleiben oft wirkungslos, sobald die Personen, die sie in ihren Institutionen eingeführt haben, ihre Stelle wechseln oder die Struktur verlassen. Wie die meisten Kapitel des Rosa Heftes müssten fast auch die Chartas jedes Jahr neu geschrieben werden, damit sie aktuell bleiben und die Komplexität aller Situationen bestmöglich widerspiegeln.

Die Workshops und Treffen müssen weiterhin an mehreren Fronten agieren, indem sie alle Teilnehmenden dazu ermutigen, mehr Vertrauen in die kollektive Kreativität und Intelligenz zu setzen, und indem sie ihnen den nötigen Impuls geben, sowohl ihre Forderungen als auch ihre innovativen Lösungen in alle Schichten des institutionellen, kulturellen und politischen Ökosystems zu tragen.

Noemi Grütter ist eine feministische Aktivistin und Menschenrechtsexpertin. Mit ihrer feministischen Arbeit inspiriert sie über lokale, nationale und internationale Institutionen hinweg bis in die Clubs und auf den Strassen. Mit dem Festival Les Créatives hat sie das Rosa Heft für mehr Gleichstellung in der Kultur- und Kunstszene mitkonzipiert und mitgeschrieben. Sie ist selbst DJ (DJ ALÉLÉFI) sowie Teil des Kollektivs «Cats Calling Back».

Lucrezia Perrig studierte Philosophie und Politikwissenschaften. Zurzeit promoviert sie unter der Leitung von Marta Roca i Escoda am Zentrum für Gender Studies an der Universität Lausanne zum Thema queere Ehen in der Schweiz. Sie ist Co-Autorin des Rosa Heftes, dem Schweizer Leitfaden für Gleichstellung in der Kultur, der im Rahmen des feministischen Festivals Les Créatives in Genf entstanden ist.